Entwicklungen im Baubereich in Europa – Jahresrückblick und Abschied als EU-Referent
Dr. Christian Hofer
"Am Ende wird Bilanz gezogen." So – in etwas anderen Worten – antwortet einer meiner langjährigen Freunde immer auf die Frage: „Wie steht's?“. Und 2020 war auch für den Baubereich kein leichtes Jahr: Die Auswirkungen der Pandemie bleiben in ganz Europa deutlich zu spüren, die EU-Bauproduktenverordnung wurde noch nicht novelliert und es herrscht weiterhin Stillstand in der europäischen Normung. Auch im nächsten Jahr warten viele wichtige Aufgaben, die uns gemeinsam fordern werden. Es ist eigentlich zu früh, um bereits Bilanz zu ziehen.
Mit Ende 2020 endet aber auch meine Funktion als EU-Referent der Bauministerkonferenz. Das Angebot des Präsidenten des Deutschen Instituts für Bautechnik, hier einen Artikel zu verfassen, hat mich daher sehr gefreut. Schließlich wird die Zuneigung zu den Dingen, die einem lieb sind, beim Abschied immer noch ein wenig wärmer.
Was gibt es also neben dem Offensichtlichen zu berichten? Besonders wichtig scheint mir, dass der Baubereich erst am Beginn weitreichender Veränderungen steht. Die Folgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zu den Bauregellisten sind aus meiner Sicht weder „ausgestanden“, noch wird das neue System im Bauproduktenbereich dauerhaft „einfach so hingenommen“ werden. Auch die am 11. Dezember 2019 von der Europäische Kommission veröffentlichte Mitteilung zum „Green Deal“ sowie der COVID-19-Wiederaufbauplan werden tiefgreifende Auswirkungen auf den Baubereich und damit auf die Bauministerkonferenz haben.
Die Europäische Union beabsichtigte bislang, bis zum Jahr 2030 rund 40 % weniger CO2 als im Vergleichsjahr 1990 zu emittieren. In ihrer Rede zur Lage der EU am 16. September 2020 rief Kommissionspräsidentin von der Leyen ein neues CO2-Reduktionsziel von 55 % bis zum Jahr 2030 aus. Neben dem Verkehrsbereich solle der Baubereich einen Schwerpunkt des Wandels bilden. Der Gebäudebestand verbraucht laut Europäischer Kommission etwa 40 % der Gesamtenergie und verursacht 36 % der Emissionen in der EU. Obwohl in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt wurden, seien immer noch 75 % des Gebäudebestands nicht energieeffizient. Die jährliche Renovierungsrate liege in den Mitgliedstaaten aktuell zwischen 0,4 % und 1,2 %. Diese Quote müsse sich künftig mindestens verdoppeln.
Als wichtige Maßnahme schlägt die Europäische Kommission eine „Renovierungswelle“ vor, um bis 2030 in der EU mehr als 35 Millionen Gebäude zu sanieren. Flankiert wird dieser Prozess durch ein neues „Europäisches Bauhaus“ als eine Art gesellschaftliche Ideenschmiede, um eine neue Ästhetik zu schaffen, die Baukunst und Nachhaltigkeit miteinander vereint. Zu den sechs Handlungsfeldern zählen: (1.) Verbesserung der Information und Anreize für Renovierung, (2.) Verstärkte, zugängliche und gezielte Finanzierung, (3.) Ausbau der Kapazitäten und der technischen Hilfe, (4.) Schaffung „grüner Arbeitsplätze“, (5.) Strategie für eine nachhaltige bauliche Umwelt sowie (6.) ein integrativer, partizipativer und quartiersbezogener Ansatz. In einem ersten Schritt sollen die langfristigen Renovierungsstrategien der Mitgliedstaaten evaluiert, die Rechtsvorschriften über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden überprüft und künftig konsequenter durchgesetzt und wenn nötig verschärft werden.
In der Reihe der angeführten Einzelmaßnahmen stehen Vorhaben, wie die schrittweise Einführung verbindlicher Renovierungsvorgaben, die europaweite Vereinheitlichung von Energieausweisen und Energieaudits, die Einführung von digitalen Gebäudelogbüchern und eine vollständige Digitalisierung der Bauwirtschaft sowie von Genehmigungsverfahren. Als sofort anzugehende „TOP-Prioritäten“ genannt werden u.a. eine Initiative für bezahlbaren Wohnraum mit 100 Leuchtturmprojekten zur Renovierung ganzer Stadtteile, die Ausweitung der Renovierungspflichten auf alle öffentlichen Gebäude sowie eine digitale (Bau-)Produkt- und Umweltkennzeichnung.
Die „Renovierungswelle“ wird auch im COVID-19-Wiederaufbauplan angesprochen. Er ist Teil des nächsten mehrjährigen EU-Finanzrahmens 2021-2027 und sollte sich ursprünglich* auf insgesamt 1.850 Mrd. € belaufen, davon 750 Mrd. € aus dem neuen Finanzierungsinstrument „Next Generation EU“. Zudem sollen die Fördermöglichkeiten im Rahmen von „InvestEU“ ausgeweitet werden. Neben der Europäischen Investitionsbank werden in Europa tätige internationale Finanzinstitute – wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, die Weltbank und die Entwicklungsbank des Europarats – sowie nationale Förderbanken direkten Zugang zu EU-Garantien erhalten. Die „Renovierungswelle“ soll laut Europäischer Kommission als zentrales Instrument zur Senkung des Energieverbrauchs von diesen EU-Mitteln besonders profitieren.
Weiterhin sind noch viele Fragen offen – was nicht allein den äußeren Umständen, sondern vermutlich auch dem ganzheitlichen Ansatz der „Renovierungswelle“ geschuldet sein dürfte. Eines sollte uns jedoch klar sein: Die Erreichung der EU-Klimaziele wird mit großen Anstrengungen und hohen Kosten verbunden sein.
Ein weiteres zentrales Thema für die Bauministerkonferenz ist die angedachte Novellierung der EU-Bauproduktenverordnung. Wenngleich es sich um ein eigenständiges Projekt handelt, bestehen aufgrund der Verschränkungen im Bereich Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit und bei der Digitalisierung von Produktkennzeichnungen enge Bezüge zum Maßnahmenpaket der „Renovierungswelle“. Ausgangspunkt der Novellierung bleiben allerdings die erkannten Defizite von harmonisierten europäischen Bauproduktnormen, die wiederholt Gegenstand der Beratungen der ARGEBAU waren. Bereits im Jahr 2018 hatten sich 60 % von insgesamt 641 Befragten aus Wirtschaft und dem öffentlichen Sektor für eine Anpassung der bestehenden Bauproduktenverordnung ausgesprochen.
Die Europäische Kommission verfolgt hierzu aktuell eine doppelte Strategie: einerseits die Änderung des bestehenden Rechtsrahmens, andererseits die technische Überarbeitung des Gesamtbestands der im EU-Amtsblatt bekannt gemachten harmonisierten europäischen Produktnormen. Letztere seien zu überarbeiten, um mit Inkrafttreten einer novellierten EU-Bauproduktenverordnung ohne zeitlichen Versatz einen rechtsfehlerfreien Stand an technischen Normen einführen und rechtsverbindlich machen zu können. Dieser Prozess hat nicht nur bei den Normungsinstituten zu erheblichen Diskussionen geführt, sondern wurde auch zum Gegenstand der legislativen Kontrolle des Europäischen Parlaments.
Aus Sicht der Bauministerkonferenz von zentraler Bedeutung bleibt, dass es zu keiner Verfestigung der Probleme durch Lücken in harmonisierten europäischen Bauproduktnormen kommt. Die Novellierung der EU-Bauproduktenverordnung und einhergehend die Sicherstellung der Mitwirkungsrechte der Mitgliedstaaten in diesen Prozessen ist hierbei von gleichermaßen hoher Bedeutung für die mittelständische Bauwirtschaft wie für die für das Bauordnungsrecht zuständigen Länder. Die eingeleiteten Prozesse bieten grundsätzlich die Chance, nach wie vor lückenhafte Normen an bestehende mitgliedstaatliche Anforderungen anzupassen, den bestehenden Normenstau aufzulösen und damit den anhaltenden Rechtsunsicherheiten in der Bauwirtschaft entgegenzuwirken. Die Vorlage des Entwurfs zur Novellierung der Bauproduktenverordnung wird derzeit für das erste Quartal 2021 erwartet.
Diese Entwicklungen werden tiefgreifende Auswirkungen auf den Baubereich haben. Die europäische Rechtsetzung wird immer dynamischer, und die Europäische Kommission in ihren Aktivitäten selbstbewusster, die im strengen Sinn nicht oder nicht unmittelbar zu den Rechtsquellen des Unionsrechts gehören. Daher müssen wir weiterhin gemeinsame Anstrengungen der Bauwirtschaft und Verwaltung unternehmen, um den kommenden Herausforderungen mit innovativen und pragmatischen Lösungen zu begegnen.
Hierfür wünsche ich allen Beteiligten einen langen Atem und weiterhin viel Erfolg. Persönlich bin ich dankbar, für die Erfahrungen, die ich in vier Jahren als Leiter der für den Ausbau des Flughafen Münchens zuständigen Bauaufsichtsbehörde, in sechsjähriger Tätigkeit als Ministerialbeamter in diversen ARGEBAU-Projektgruppen und zuletzt in zwei Jahren als EU-Referent der Bauministerkonferenz sammeln konnte.
Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen, die ich über diese Zeit kennen und schätzen lernen durfte, meinen herzlichen Dank für die stets sehr gute und bereichernde Zusammenarbeit ausdrücken. Sie haben alle dazu beigetragen, dass ich meine Tätigkeit als EU-Referent in bester Erinnerung behalten werde.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien eine besinnliche Adventszeit sowie ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch und hoffe auf ein Wiedersehen in anderer Funktion und in einem hoffentlich etwas ruhigeren Jahr 2021!
Ihr
Dr. Christian Hofer
EU-Referent der Bauministerkonferenz
* Der EU-Haushalt war zum Zeitpunkt der Verfassung des Textes noch nicht beschlossen.
Zur Person: Herr Dr. Hofer war nach seiner Tätigkeit in einer international tätigen Rechtsanwaltskanzlei u.a. als Leiter der für den Flughafen Franz-Josef Strauß zuständigen Bauaufsichtsbehörde tätig und ist seit 2014 stellvertretender Referatsleiter im heutigen Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr. In dieser Funktion war er in diversen Arbeitsgruppen der Bauministerkonferenz tätig. Seit Oktober 2018 bekleidet er die Position des EU-Referenten der Bauministerkonferenz. Zum 1. Januar 2021 wechselt Herr Dr. Hofer in leitender Funktion zum Bayerischen Landkreistag, einem der vier bayerischen kommunalen Spitzenverbände.